Ein Text sucht die Musik – wie es zu "L’étoile" kam

Sigfried Schibli
Sigfried Schibli
22.8.2022
7 Minuten Lesezeit
Ein Text sucht die Musik – wie es zu "L’étoile" kam

Emmanuel Chabrier (1841–1894) war der Komödiant unter den französischen Komponisten seiner Zeit. Klein, rundlich, glatzköpfig – man kann sich lebhaft vorstellen, wie dieser Mann zum Vergnügen seiner Zuhörerinnen und Zuhörer am Klavier aufspielte, dabei die Musikstile seiner Zeitgenossen parodierte und allerlei musikalische Scherze machte. Die Einladungen in Chabriers Wohnhaus an der Rue Mosnier (heute Rue de Berne) in Paris – in Nachbarschaft von Édouard Manet – waren legendär.

Chabrier wurde nur 53 Jahre alt, aber in diesem überschaubaren Leben hatte vieles Platz: eine Jugend in der Auvergne, eine frühe Ausbildung am Klavier, das Studium der Jurisprudenz und eine kleine Beamtenkarriere in Paris, Freundschaften mit Musikern und Malern, Erfolge und Misserfolge als Opern- und Klavierkomponist. Als er 1894 starb, fanden sich in seinem Nachlass elf Gemälde von Manet, acht von Monet und sechs von Renoir. Ein einziges musikalisches Werk von Chabrier hat es zu nachhaltiger Wirkung gebracht: «España» für Orchester. Dass der 25 Jahre jüngere Erik Satie es als «Espagnaña» verspottete, war freundlich gemeint und tat seiner Popularität keinen Abbruch.

Neben allen Erfolgen des in Pariser Komponistenkreisen beliebten Autodidakten Chabrier gab es in seinem Leben geradezu tragikomische Zufälle. Weil die Pariser Oper seine Oper «Gwendoline» nicht spielen wollte, gab Chabrier die Uraufführung an das Théâtre de la Monnaie nach Brüssel. Nach der zweiten Aufführung musste der Intendant Insolvenz beantragen – es war nicht Chabriers Schuld! Seine komische Oper «Le roi malgré lui» kam zwar 1887 in Paris auf die Bühne, doch nach der dritten Aufführung brannte das Theater ab – auch dafür konnte Chabrier nichts. Seine letzte Oper «Briséïs» blieb unvollendet. Chabrier starb verarmt und geistig umnachtet in Paris.

«L’étoile» (Der Stern) ist ein relativ frühes Werk von 1877. Eine Opéra-bouffe in drei Akten in einem orientalisierenden Stil. Die Librettisten Leterrier und Vanloo waren im komischen Genre erfahrene Autoren, die bereits anderen Komponisten zum Erfolg verholfen hatten. Sie waren wohl mitverantwortlich dafür, dass Chabrier nach einigen Enttäuschungen 1877 mit «L’étoile» sein erstes Bühnenwerk auf die Bühne der Bouffes-Parisiens bringen konnte. Deren Direktor war Charles Comte, der Schwiegersohn des von Chabrier verehrten Jacques Offenbach. Im Orchester rumorte es angesichts der spieltechnischen Schwierigkeiten des neuen Werks, aber Comte setzte seine ganze Autorität ein, um die Premiere zu ermöglichen. Chabrier baute zwei frühere Stücke, eine Romanze und einen Chor, in das neue Werk ein. 

In der Regel sind es die Komponisten, die eine Idee zu einem Bühnenwerk haben und dafür einen Librettisten suchen. Im Fall von «L’étoile» war es umgekehrt. Leterrier und Vanloo, die in den Siebzigerjahren mehrere Textbücher für Operetten geschrieben hatten, suchten für ihren neuen Text jemanden, der ihn vertonen könnte. Und nachdem sie einige Klavierstücke und Lieder von Chabrier gehört hatten, war er ihr Favorit. Chabrier hatte damals noch nicht viel Opernerfahrung; er hatte lediglich den zweiten Akt einer dreiaktigen Operette mit dem Titel «Le service obligatoire» komponiert (die Musik dazu ist verschollen). Nach der Premiere von «L’étoile» am 28. November 1877 war Chabrier schlagartig bekannt. Presse und Publikum waren begeistert. Warum das Stück nach 48 Aufführungen vom Spielplan genommen wurde, ist nicht bekannt.

Nach dem Bericht der Librettisten neigte Chabrier dazu, die fertigen Stücke immer wieder zu überarbeiten – der Horror für jeden Textdichter. «Gegen diese Praxis mussten wir mehrfach einschreiten, doch als der höchst zuvorkommende Kollege, der er war, stimmte er allem, was wir sagten, wohlwollend zu.»

Paris befand sich damals im Wagner-Fieber, und auch für Emmanuel Chabrier war das Erlebnis mit «Tristan und Isolde» in München prägend. «Le petit Bayreuth» nannten Pariser Musiker den Kreis der französischen Wagnerianer, zu denen Chabrier zählte. Obwohl er sich als Wagnerianer verstand und das Komponieren ihm niemals leicht fiel, klingt seine Musik häufig leichtfüssig und elegant. Der parodistische, spritzig-witzige Charakter von «L’étoile» begeisterte Komponisten wie Claude Debussy, Francis Poulenc, Charles Koechlin und Igor Strawinsky. Gerade die Komponisten unter den Chabrier-Verehrern schätzten seine Fähigkeit, unterschiedliche Handschriften wie etwa Donizettis Belcanto-Stil zu parodieren («Duetto de la Chartreuse verte»). Die Tatsache, dass «L’étoile» eher eine lockere Szenenfolge als eine kohärente Geschichte ist, macht dieses Werk auch unter dramatischen Gesichtspunkten interessant.

Zwei Jahre nach dem ersten Opernerfolg von Chabrier vertonte er erneut ein Libretto von Leterrier und Vanloo, «Une Éducation manquée». Dieses Werk und das Schlüsselerlebnis mit Wagners «Tristan» im Sommer 1880 verhalfen ihm endgültig dazu, vom Amateur zum Berufskomponisten zu werden. Er gab seine Beamtenstelle auf und schrieb weitere Opern, so «Gwendoline» und «Le Roi malgré lui», ohne jemals die Musik Wagners zu imitieren. 

Sigfried Schibli


Bildquelle: Wikicommons

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